Der sogenannte Inner-Crowd-Effekt soll helfen, reflektierte Entscheidungen zu treffen. Menschen konfrontieren sich dabei selbst mit möglichen Gegenposition zu ihrer eigenen Einschätzung. Eine neue Studie zeigt: Das hat deutliche Vorteile.
Den Begriff „inner crowd effect“ haben zwei niederländische Forscher geprägt: Philippe van de Calseyde (TU Eindhoven) und Emir Efendić (Universität Maastricht). Im Juni 2022 veröffentlichten sie eine Studie, deren Titel zusammenfassend feststellt: „Eine abweichende Perspektive einzunehmen verbessert die Genauigkeit quantitativer Schätzungen“. Oder, einfacher gesagt: Wer sich nicht nur auf das eigene Urteil verlässt, sondern sich auch mit Alternativmeinungen auseinandersetzt, erzielt beim Schätzen bessere Ergebnisse.
Mit der Bezeichnung „inner crowd“ (auf Deutsch etwa „innere Menschenmenge“) beziehen sich de Calseyde und Efendic auf die englische Wendung „wisdom of the crowd“. Sie lässt sich mit „Intelligenz der Masse“ übersetzen und besagt, dass eine Sammlung verschiedener Meinungen zu einem Thema insgesamt weniger Raum für Fehler zulässt als die Meinung einer einzelnen Person. Auch wenn die Einzelmeinungen selbst nicht unbedingt fehlerfrei sind: Zusammengenommen ergeben sie einen besseren Näherungswert als für sich allein genommen. Populär wurde dieser Ansatz insbesondere durch das Buch „Die Weisheit der Vielen“ des US-amerikanischen Journalisten James Surowiecki, das 2004 erschien.
Die Studie der beiden Niederländer legt jetzt nahe, dass solche verschiedenen Meinungen nicht unbedingt auch von verschiedenen Personen kommen müssen: Von der „Weisheit der Vielen“ soll man auch profitieren können, wenn man selbst verschiedene Perspektiven auf eine Problemstellung einnimmt – also gewissermaßen eine innere Diskussion mit Andersdenkenden führt.
Inner-Crowd-Effekt: Meinungsverschiedenheiten können hilfreich sein
Im Rahmen ihrer Studie führten de Calseyde und Efendic mehrere Versuchsreihen mit insgesamt 6.400 Teilnehmenden durch. Die Versuchspersonen sollten dabei verschiedene Schätzaufgaben lösen und zum Beispiel das Gewicht eines Klaviers, einer Waschmaschine oder eines Elefantenbabys schätzen.
Hatten sie eine erste Entscheidung getroffen, sollten sie anschließend noch eine zweite Schätzung abgeben. Dafür erhielten sie unterschiedliche Anweisungen: Eine Gruppe sollte lediglich ein zweites Mal raten, ohne dabei einer bestimmten Strategie zu folgen. Die Mitglieder der zweiten Gruppe sollten sich vorstellen, wie ein Freund mit ähnlichen politischen Ansichten wie sie selbst die Aufgabe lösen würde. Die dritte Gruppe schließlich sollte bei ihrer zweiten Schätzung die Perspektive eines Freundes mit anderen politischen Ansichten einnehmen.
Auf Grundlage dieser Einteilung fielen die Schätzergebnisse sehr verschieden aus. Besonders deutlich hob sich die dritte Gruppe ab: Hier unterschied sich die zweite Schätzung am stärksten von der ersten. Zunächst klingt ein so großer Meinungsunterschied wenig hilfreich für die Ergebnisfindung. Tatsächlich zeigte sich bei der Auswertung aber, dass die Mitte zwischen zwei sehr unterschiedlichen Schätzungen dem richtigen Ergebnis oft am nächsten kam.
In der dritten Gruppe war der Durchschnittswert aus der ersten und der zweiten Schätzung häufig nicht nur genauer als die erste Schätzung, sondern auch genauer als die Durchschnittswerte in den anderen Gruppen. Bei rund einem Drittel der Versuchspersonen aus der dritten Gruppe lag der tatsächlich gesuchte Wert zwischen den beiden Schätzungen, die sie abgegeben hatten. In den beiden anderen Gruppen dagegen kam das nur in jedem fünften Fall vor.
Inner-Crowd-Effekt: Gegenstimmen lassen sich simulieren
Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass der Inner-Crowd-Effekt in seiner Wirksamkeit durchaus mit der „Intelligenz der Masse“ vergleichbar ist. Die Mitglieder der dritten Gruppe konnten zwar nicht die Alternativmeinungen realer Personen in ihre Entscheidung miteinbeziehen, sondern mussten sich diese selbst ausdenken. Dennoch zeigt der Verglich der Durchschnittsergebnisse, dass auch solche fiktiven Gegenpositionen schon zu einer reflektierteren Entscheidung führen können. Es ist also in vielen Situationen von Vorteil, sich nicht nur auf die eigene Einschätzung zu verlassen, sondern eine „inner crowd“ nach möglichen Alternativen zu befragen – und dann einen Mittelweg einzuschlagen.
Aber Achtung: Weniger erfolgreich ist diese Strategie bei Werten, die an den Extrempolen einer Skala liegen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sehr hohe oder sehr niedrige Prozentzahlen erraten werden sollen. In solchen Situationen führt der Durchschnittswert aus zwei stark abweichenden Schätzungen eher vom richtigen Ergebnis weg, statt sich ihm im Mittel anzunähern.